Fortbildung aktuell – Das Journal Nr. 4/2021
DR. VERENA STAHL
ABBILDUNG 1: Befragung von 24 Ärzten für Allgemeinmedizin in Neuseeland zum The- ma Deprescribing (adaptiert nach 12 ).
Deprescribing erschweren, sind vielfältig, siehe auch Abbildung 1: 2,12 • Leitlinientreue und damit bedingte Haftungsfragen • Unsicherheiten über den Nutzen oder die Risiken des Fortführens wie des Absetzens einer Therapie • Erwartungshaltung des Patienten (und der Angehörigen) in puncto Be- handlung von Krankheiten durch Medikamente • Vertrauensverhältnis Arzt-Patient • Zeitmangel für ein gründliches Beratungsgespräch, • Unbezahlte Tätigkeit • Informationsdefizite (über den Patien- ten, zurückliegende Therapiegründe, Deprescribing-Vorgehen) • mangelnde Unterstützung durch „Experten“ • „Einmischen“ bei anderen Verordnern, wenn Patienten von mehreren Ärzten betreut werden Beim gewissenhaften Absetzen von Arzneimitteln handelt es sich um einen sehr patientenorientierten Vorgang, da es eine gemeinsame Entscheidungsfin- dung, Einverständnis des Patienten und engmaschige Überwachung der poten- tiellen Absetz-Auswirkungen erfordert. Nicht jeder Patient steht Vorschlägen zum Absetzen seiner Medikation positiv gegenüber, manche möchten an ihrer - meist langjährig durchgeführten und als essentiell angesehenen - Therapie fest- halten und fühlen sich abgewertet, an- dere sind bei derartigen Entscheidungen überfragt. Wichtig ist, dass Patienten der- artige Interventionen nicht als „Wegneh- men“ oder Autonomie-Verlust verstehen (Analogien bestehen zum Abgeben des Führerscheins), sondern positiv belegt als Optimierungsversuch, Ballastabwurf und Zunahme an Sicherheit wahrnehmen. Ein- drückliche Patientenmeinungen wurden jüngst in einer Befragung von 17 kardio- vaskulär erkrankten Senioren in den Nie- derlanden gesammelt, die mindestens 70 Jahre alt waren und mit fünf oder mehr Arzneimitteln therapiert wurden. 13 Die Autoren der Studie identifizierten dabei auf der Grundlage der Einstellung der Teil- nehmer zu ihrer Medikation und ihrer Be- reitschaft, Arzneimittel abzusetzen, vier Die Rolle des Patienten
„Es ist eine schwierige Diskussion, etwas abzusetzen oder zu verändern, was durch
„Falls der Patient irgendwann einmal einen Herzinfarkt erleidet und man vorher das Statin abgesetzt hat, hat man schlechte Karten.“
„Patienten erwarten, dass sie bei allem Möglichen eine Pille bekommen.“
einen Facharzt oder im Krankenhaus angesetzt wurde.“
„Es könnte so verstanden werden, als hätte man den Patienten - z.B. aufgrund seines Alters - bereits abgeschrieben.“
„Verordnen wurde uns beigebracht, Deprescribing war aber nie ein Thema.“
„Wenn man sich an die Leitlinien hält, kommen einfach immer mehr Medikamente hinzu. Und wer will sich nicht an die LL halten?“
„Für so etwas ist im Praxisalltag und gerade bei komplexen Patienten keine Zeit.“
Wallis KA et al. Ann Fam Med 2017;15:341-346.
TABELLE 2: Patiententypologie auf der Grundlage der Einstellung zur Medikation und der Bereitschaft, die Medikation abzusetzen (adaptiert nach 13 ). Patiententypologie Motive und Überzeugungen Patiententyp 1 Hat schon Ist
Führt sein Wohlbefin- den auf sein(e) AM zu- rück und ist daher un- willig, es/sie abzusetzen. Ist zufrieden mit seinem Gesundheitszustand und auch positiv gegen- über AM gestimmt. Ist eher negativ gegen- über AM eingestellt.
einmal schlechte Erfahrungen beim Absetzen von AM gemacht. Möchte weniger AM/ nicht nochmehr AM ein- nehmen. Sieht bestimmte AM als essentiell an, möchte aber andere gerne ab- setzen.
unsicher/fürchtet sich vor den Auswir- kungen des Absetzens.
positive Einstellung zu Arzneimitteln (AM) und nicht gewillt, etwas zu verändern Patiententyp 2 positive Einstellung zu AM und willens, AM ab- zusetzen Patiententyp 3 negative/ambivalente Einstellung zu AM und willens, etwas abzuset- zen Patiententyp 4 indifferente Einstellung zu AM und Absetzen von AM
Ist willens, AM abzuset- zen, wenn dies vom Arzt vorgeschlagen wird. Fühlt sich von Ärzten nicht ernst genommen hinsichtlich AM-Proble- men und Absetzwün- schen, beklagt Zeit- mangel. Tendiert dazu, Ent- scheidungen hinsicht- lich der AM-Therapie Angehörigen oder Ärz- ten zu überlassen.
Hat keine eindeutige Meinung zu AM.
Ist nicht wirklich daran interessiert, was mit der AM-Therapie passiert.
indifferente Einstellung zu Arzneimitteln und waren auch nicht an Absetz-Interven- tionen interessiert. Sie tendierten dazu, diesbezügliche Entscheidungen ihren Ärz- ten oder Bezugspersonen zu überlassen. Die Befragung verdeutlicht sehr gut, wie wichtig es ist, Motive und Überzeugungen des Patienten hinsichtlich seiner Arznei- mitteltherapie zu ergründen, bevor man ein Deprescribing durchführt. Denn nur dann kann die richtige Ansprache-Strate- gie gewählt und entschieden werden, in welchem Umfang Patienten in den Pro- zess eingebunden werden wollen.
Patiententypen (s. Tab. 2). Einige waren nicht gewillt, etwas an ihrer Medikation zu verändern (Patiententyp 1), während andere gerne weniger Arzneimittel ein- nehmen würden, wenn dies vom Arzt be- fürwortet werden würde (Patiententyp 2). Beide Patiententypen wiesen eine positive Einstellung zur Arzneimitteltherapie auf. Anders verhielt es sich bei einer dritten Patientengruppe, die der eigenen Arznei- mitteltherapie eher negativ gegenüber- stand und schon in der Vergangenheit den Wunsch hegte, etwas zu verändern, sich aber nicht von ihrem Arzt verstanden oder ernstgenommen fühlte. Angehörige der vierten Patientengruppe pflegten eine
AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal / 13
Made with FlippingBook Digital Publishing Software