Fortbildung aktuell – Das Journal Nr. 4/2021

DEPRESCRIBING

TABELLE 1: Deprescribing-Schema in fünf Schritten (adaptiert nach 2 ).

Schritt- Nummer

Schritt

Details / zu beachten

1

Erfassung aller Arzneimittel, die der Patient derzeit einnimmt Abschätzung des individuellen Risikos arzneimittelbedingter Schäden zur Festlegung des erforderlichen Umfangs der Deprescribing-Intervention Beurteilung, bei welchen Arzneimitteln ein Absetzen geeignet wäre Priorisierung der abzusetzen- den Arzneimittel vornehmen

Erfragung der Behandlungsgründe und der Adhärenz

2

Risikoabschätzung u. a. abhängig von der Gesamtzahl der Arzneimittel, dem Einsatz von Hochrisiko-Arzneimit- teln und Patientenfaktoren wie einem Alter über 80 Jahren, kognitiven Beeinträchtigungen, Multimorbidität und Arzneimittelmissbrauch

3

z. B. altersinadäquate Arzneimittel, kontraindizierte Arzneimittel, Arzneimittel zur Behandlung zweifelhafter Diagnosen, Arzneimittel mit geringem Nutzen am Lebensende, Verordnungskaskaden

4

Zuerst sollten Arzneimittel mit dem größten Schädigungspotential und geringstem Nutzen abgesetzt werden, gefolgt von Arzneimitteln, die ohne Absetzphänomene oder Krankheitsrückfall beendet werden können, dann sollten Arzneimittel abgesetzt werden, die der Patient am ehesten absetzen möchte Dem Patienten sollte der Absetzplan erläutert und sein Einverständnis eingeholt werden. Es sollten nicht mehrere Arzneimittel gleichzeitig abgesetzt werden, ummögliche Absetzreaktionen und im Gegenzug auch Verbesserungen gezielt einem Arzneimittel zuordnen zu können. Ggfs. ist ein ausschleichendes Absetzen erforderlich. Kontrolle von Absetzphänomenen und Handlungsempfehlungen für den Patienten und seine Betreuer für den Fall des Auftretens von Absetzphänomenen ausarbeiten. Dokumentation der Rationale und der Resultate des Deprescribings.

5

Implementierung und Überwachung des Absetzre- gimes

um qualitativ hochwertige und aussage- kräftige Ergebnisse zu erzielen [9].

jährlichen kritischen Überprüfung der Therapie, ihrer Zweckmäßigkeit und der Identifikation ungeeigneter oder schädli- cher Medikamente (Über- und Fehlversor- gung), werden konkrete Handlungsemp- fehlungen ausgesprochen, nach welchem Schema ungeeignete Arzneimittel ab- gesetzt werden sollen. Wissenschaftlich bedeutende Ergebnisse werden von der derzeit laufenden COFRAIL-Studie erwar- tet (www.cofrail.com). Unter Federfüh- rung des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf wird bei eigenständig lebenden, gebrechlichen Senioren untersucht, wie sich sogenannte Familienkonferenzen mit dem behandeln- den Hausarzt und eine gemeinsame Prio- risierung von Arzneimittelverordnungen inklusive Deprescribing auf die Patienten- sicherheit (konkret Sturzereignisse nach sechs und zwölf Monaten) auswirken. Ein Forschungsvorhaben der TU München zum Thema Deprescribing konzentriert sich auf die Reduktion von Antipsychotika bei Heimbewohnern mit fortgeschrittener Demenz. ImRahmen der sogenannten READY-Studie werden nun Handlungsempfehlungen für Deutsch- land erarbeitet (www.decide.med.tum. de/reduktion).

die pharmazeutisch betreuten Patienten im Durchschnitt 2,88 Arzneimittel weni- ger ein als Patienten der Kontrollgruppe.

Deprescribing-Schema

Heterogene Studien

Es wird empfohlen, beim Deprescribing in mehreren Schritten und in enger Ab- sprache mit dem Patienten vorzugehen (s. Tab. 1). 2

Dass bei erfolgreichen Deprescribing- Interventionen nicht immer von positi- ven Effekten über die Reduktion der Arz- neimittelanzahl hinaus berichtet wurde, zum Beispiel weniger Sturzereignisse oder Krankenhausaufnahmen oder ein verbes- sertes Abschneiden bei Kognitionstests, liegt zum Teil an der methodischen Qua- lität der Studien. Manche Untersuchun- gen sind nicht darauf ausgerichtet, kli- nisch relevante oder patientenbezogenen Auswirkungen als Studienendpunkte zu erfassen und analysieren beispielsweise „nur“, wie viele Arzneimittel eines Patien- ten durch Deprescribing abgesetzt oder in ihrer Dosis reduziert werden konnten, bei wie vielen Patienten diese Veränderungen auch langfristig Bestand hatten und ob es zu Absetzphänomenen oder Rebounds gekommen ist. Verzerrend könnten aber auch bei entsprechend konzipierten Un- tersuchungen die recht kurzen Nachbeob- achtungszeiträume von meist einem hal- ben Jahr wirken. Hier muss die Forschung sicherlich noch gestärkt und entspre- chend gefördert werden und es gilt, ver- schiedene Aspekte beim Studiendesign und der Durchführung zu berücksichtigen,

Deprescribing in Deutschland

Das umfassende Konzept des Deprescri- bings hat in der Praxis noch nicht richtig Fuß gefasst, wobei Einzelaspekte seit lan- gem durchaus Berücksichtigung finden (sollten). Erwähnenswert ist die Initiative der DeutschenGesellschaft für InnereMe- dizin (DGIM) „Klug entscheiden“, die den kritischen Einsatz von Arzneimitteln an- mahnt, aber eher zum Zeitpunkt der Ver- ordnung ansetzt [10]. Dennoch finden sich hier Beispiele, wie das inadäquate Festhal- ten an Protonenpumpenhemmern (PPI) über das Therapieende hinaus. Konkreter widmet sich die aktuell in neuer Auflage erschienene Hausärztliche Leitlinie Mul- timedikation dem Thema Deprescribing [11]. Die Adressaten der Leitlinie, Hausärz- tinnen und Hausärzte, werden ermutigt, Deprescribing als Teil des Medikations- prozesses zu betrachten und gerade bei Multimedikation nicht den Überblick zu verlieren. Neben einer Empfehlung zur

Hindernisse in der klinischen Umsetzung

Gründe, die aus ärztlicher Sicht ein

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