Fortbildung aktuell – Das Journal Nr. 4/2021
DR. VERENA STAHL
verbessert sich häufig das Blutdruck- und Blutzuckerprofil beträchtlich und macht mitunter den Einsatz von Antihyperten- siva und oralen Antidiabetika überflüssig. Wird den Veränderungen keine Beachtung geschenkt, erleiden Patienten, gerade Äl- tere, schnell Schaden durch hypotensive oder hypoglykämische Zustände. Auch können sich Behandlungsziele, der Ge- sundheitszustand oder Präferenzen des Patienten mit der Zeit geändert haben - insbesondere am Lebensende - weshalb Anpassungen in der Wahl des Arzneimit- tels oder seiner Dosierung erforderlich werden. Ein Problem stellen ferner unklar formulierte Behandlungsziele dar, bezie- hungsweise solche, deren Erreichen nicht konsequent und fortlaufend überprüft wird. Bei älteren Patienten werden des Weiteren einige gängige Arzneimittel re- gelmäßig verordnet, obwohl sie als poten- tiell altersinadäquat eingestuft werden. Zu unkontrollierter und unangemessener Multimedikation tragen nicht selten auch Präparate der Selbstmedikation bei, von denen Ärzte in vielen Fällen keine Kennt- nis haben. Unter Polypharmazie nehmen Lebens- qualität und Adhärenz des Patienten er- wiesenermaßen ab, beide Aspekte sind dabei miteinander verknüpft. Schließlich bergen komplexe und überfrachtete Me- dikationsregime die Gefahr, dass die Ein- haltung der Therapie nicht gelingt und zur Belastung wird. Im Zuge dessen kann es dazu kommen, dass Patienten notwendi- ge Therapeutika unregelmäßig oder nicht mehr einnehmen, weil sie entsprechend ihrer Überzeugungen oder Vorlieben Prio- ritäten setzen und bestimmte Arzneimit- tel, deren Nutzen sie beispielsweise nicht verstanden haben oder direkt verspüren, zu Gunsten anderer weglassen. 2 Zudem kann Polypharmazie indirekt auch zu Un- terversorgung (Nicht-Behandlung von Er- krankungen) beitragen, wenn zusätzliche Verordnungen bei jemandem, der schon viele Arzneimittel einnimmt, gescheut werden (z. B. aus Angst vor Interaktionen). Es ist daher dringend geboten, Patientin- nen und Patienten mit so wenig wie mög- lichen aber so viel wie nötigen Arzneimit- teln zu versorgen. Herausforderung für die Adhärenz
Was ist möglich?
zusammengefasst im Auftreten von uner- wünschten Arzneimittelereignissen und deren Folgen für den Patienten, erhöhten Hospitalisierungs- und Mortalitätsraten sowie gesteigerten Gesundheitsausga- ben. Der effektivste Lösungsansatz wäre, unangemessene Verordnungen von vorn- herein zu vermeiden. Hierzu muss bei der Erstverordnung von Arzneimitteln eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung er- folgen, aber auch die Folgeverordnungen müssen kritisch hinterfragt werden, weil sich Nutzen und Risiken imVerlauf ändern können. Erfolgt dies nicht regelhaft, ist zuweilen ein grundlegendes, proaktives „Aufräumen“, als das man das Deprescri- bing auch verstehen kann, geboten, um Patienten vor Schäden zu bewahren. Häufig bedingen aber erst eingetretene Ereignisse, wie beispielsweise ein Sturz, dass Nutzen und Risiken der Arzneimittel- therapie sorgfältig analysiert werden, hier spricht man von reaktivem Deprescribing. Polypharmazie (meist definiert als die re- gelmäßige Einnahme von fünf und mehr Arzneimitteln und auch als Multime- dikation bezeichnet) ist - insbesondere bei älteren Patienten - ein oft anzutref- fendes Phänomen, von dem in Europa schätzungsweise 30 bis 40 % der über 65-jährigen betroffen sind. 4 Dabei ist eine bewusste, wohlbegründete und gut ab- gestimmte Multimedikation per se nicht problematisch. Schließlich sind viele Pati- enten, gerade im höheren Alter, von gleich mehreren chronischen Erkrankungen betroffen, die allesamt leitliniengerecht behandelt werden wollen. Wird ein Pati- ent dabei von mehreren Ärzten betreut, bedarf es einer guten Kommunikation der Behandler untereinander, um ein schlüssi- ges Gesamtkonzept für den Patienten zu entwickeln. Werden mit der Multimedika- tion einhergehende (potentielle) Risiken nicht hinreichend kontrolliert, spricht man von unkontrollierter Multimedikation. Sie kann darüber hinaus auch unangemessen sein, wenn sie zum Beispiel daraus resul- tiert, dass nicht mehr indizierte, unwirksa- me oder schlecht verträgliche Therapien unreflektiert fortgeführt werden. Haben Patienten beispielsweise ihren Lebensstil geändert (Ernährungsumstellung, sport- liche Betätigung, Gewichtsabnahme), Unkontrollierte und unangemessene Polypharmazie
Jede medizinische Maßnahme sollte das Kriterium evidenzbasiert erfüllen, doch welche Evidenz steckt hinter dem De- prescribing? In mehreren Studien ließ sich neben der schlichten Reduktion der Arzneimittelanzahl ein daraus ableitba- rer, direkter Nutzen für Patienten nach- weisen. So konnte ein systematisches Review von 31 Studien bei über 65-jähri- gen Patienten zeigen, dass bei geeigneter Patientenauswahl, -schulung und eng- maschiger Überwachung das vorsichtige Absetzen von Antihypertensiva, Diuretika, psychotropen Arzneimitteln und Benzo- diazepinen in 20 bis 100 % der Fälle ohne nachteilige Effekte möglich war. 5 Durch das Absetzen von psychotropen Arznei- mitteln und Benzodiazepinen konnten die Sturzrate reduziert und die kogniti- ven und psychomotorischen Funktionen verbessert werden. Ein weiteres Review randomisierter Studien belegt, dass die Sterblichkeitsrate durch patientenin- dividuelle Deprescribing-Maßnahmen deutlich gesenkt werden konnte. 6 Andere Studien zeigten besonders bei palliativ- medizinischer Fragestellung sehr gute Ergebnisse. In einer Untersuchung des israelischen Wissenschaftlers und Vorrei- ters im Kampf gegen die Polypharmazie, Doron Garfinkel, konnten beispielsweise durch gründliche ärztliche Durchsicht im Durchschnitt 4,4 überflüssige oder schäd- liche Arzneimittel pro Patient identifiziert werden. Nach eingehender Beratung mit dem Patienten, seinen Angehörigen und dem betreuenden Hausarzt wurden 82 % der Absetzempfehlungen erfolgreich um- gesetzt. Das entsprach durchschnittlich 4,2 abgesetzten Verordnungen pro Pati- ent. Nur 2,3 % der Arzneimittel wurden im späteren Verlauf aufgrund eines erneuten Auftretens von Symptomen wieder ange- setzt, generell berichteten neun von zehn Patienten (88 %) über Verbesserungen des Gesundheitszustands nach dem Abset- zen. 7 In der internationalen Deprescribing- Forschung sind auch viele Apothekerinnen und Apotheker engagiert und konnten Deprescribing-Interventionen in Senio- ren- und Pflegeheimen, Krankenhäusern und im niedergelassenen Bereich erfolg- reich vorantreiben. Beispielsweise setzten kanadische Ärzte 86 % der pharmazeuti- schen Deprescribing-Vorschläge in einem Pflegeheim um. 8 Anschließend nahmen
AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal / 11
Made with FlippingBook Digital Publishing Software