Fortbildung aktuell – Das Journal Nr. 4/2021

DEPRESCRIBING

Deprescribing Die Kunst des achtsamen Wegstreichens von Arzneimitteln

Im Jahr 2003 ging der australische Geriater Michael C. Woodward der Frage nach, wie die Gesundheit älte- rer Menschen durch gezielte Redukti- on der Arzneimittelverordnungen verbessert werden könnte und ver- wendete in diesem Zusammenhang erstmals den Begriff „Deprescribing“. Ins Deutsche übersetzt könnte man von „Verordnung aufheben“ oder „Rück-Verordnung“ sprechen (lat. praescribere: verordnen). Dabei han- delt es sich nicht um ein einfaches Absetzen von Arzneimitteln, sondern um einen systematisch und sorgfältig durchzuführenden Prozess. Die empfohlene durchdachte Vorgehens- weise hilft, bei der häufig großen Fülle an Verordnungen eines Patienten diejenigen Arzneimittel zu identifizieren, • die dem Patienten schaden oder scha- den könnten, • die aufgrund von Veränderungen des Gesundheitszustands, bei Komorbidi- täten oder Komedikation mittlerweile kontraindiziert sind, • deren Indikation unklar ist, • die Teil einer Verschreibungskaska- de sind, • die eine zweifelhafte Wirksamkeit haben, • die bei veränderten therapeutischen Zielen entbehrlich geworden sind oder niedriger dosiert eingesetzt werden könnten, oder • deren Nutzen erst nach der (begrenz- ten) Lebenserwartung des Patienten eintritt. Zusammengefasst besteht der Leitgedan- ke des Deprescribings darin, das Wohl des Patienten zu fördern, indem man ihn von schädlichen oder unnötigen Therapien befreit.

Dr. Verena Stahl (Herdecke) ist Apothekerin und wurde an der University of Florida als Semi-Resident im landes- weiten Drug Information & Pharmacy Resource Center ausgebildet. Außerdem: berufsbegleitende Dissertation zu einem Thema der AMTS, freiberufliche Tätigkeit u. a. als Autorin für die DAZ und als Referentin für diverse Apothekerkammern.

Foto: Alois Müller

Dr. Verena Stahl

beziehungsweise Grundsätze, die sich bis heute nicht geändert haben: • Überprüfung aller derzeit eingenom- menen Medikamente, • Ermittlung der Medikamente, die ab- gesetzt, ersetzt oder reduziert wer- den sollen, • Planung einer Absetzstrategie in Zu- sammenarbeit mit dem Patienten und • regelmäßige Überprüfung und Unter- stützung des Patienten. 1 Weitere Forschungsergebnisse trugen in den Folgejahren dazu bei, den Nutzen dieser Maßnahme zu belegen, aber auch DEFINITION: Deprescribing wird als systematischer Prozess der Identifikation und des Ab- setzens von Arzneimitteln definiert, bei denen aufgetretene oder potenti- elle Risiken und Schäden den zu beob- achtenden oder zu erwartenden Nut- zen übersteigen, betrachtet im Kon- text der patientenindividuellen Behandlungsziele, des aktuellen Ge- sundheitszustands, der Lebenserwar- tung, des individuellen Nutzens und der Vorlieben des Patienten. 2 Kurzform: Unter Deprescribing ver- steht man das Absetzen einer unange- messenen Medikation, überwacht und betreut durch medizinisches Fachpersonal mit dem Ziel, Polyphar- mazie zu bewältigen und das Patien- tenwohl zu verbessern. 3

Hindernisse für die Übernahme des De- prescribings in die klinische Routinever- sorgung zu identifizieren (s. u.). 2 Denn zwischen Theorie und Praxis liegen ja bis- weilen bekanntlich Welten.

Wozu braucht es Deprescribing?

Das eherne medizinethische Prinzip, pri- mum non nocere, erstens nicht schaden, ist elementarer und oft zitierter Bestand- teil des Hippokratischen Eides. Immer wieder kommt es aber zu Schädigungen in Verbindung mit der Arzneimittelthe- rapie und besonders Polymedikation, Hochrisikoarzneimittel und potentiell altersinadäquate Medikation (PIM) er- scheinen in diesem Lichte problematisch. Die negativen Auswirkungen inadäqua- ter Verordnungen oder Kombinationen sind hinlänglich bekannt und bestehen WANN SOLLTE ÜBER EIN DEPRESCRIBING NACHGEDACHT WERDEN? • Bei neu auftretenden Symptomen, die für eine unerwünschte Arznei- mittelwirkung sprechen. • Bei fortschreitenden, unheilbaren oder terminalen Erkrankungen, De- menz, extremer Gebrechlichkeit oder großer Pflegeabhängigkeit. • Einnahme von Hochrisiko-Arznei- mitteln oder -Kombinationen. • Einnahme präventiver Arzneimittel, deren Absetzen nicht mit einem er- höhten Krankheitsrisiko verbunden ist.

Grundsätze des Deprescribings

Um den Medikationsplan eines Patien- ten zu „entschlacken“, beschrieb der ein- gangs erwähnte Pionier des Deprescri- bings, Professor Woodward, in seiner Veröffentlichung folgende Prozessschritte

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