Fortbildung aktuell – Das Journal Nr. 3/2020
DR. DAGMAR HORN
Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz Oft bleiben mehr Fragen als konkrete Antworten
Ich erinnere mich noch an meine ers- te pharmazeutische Visite auf der In- tensivstation. Es war vier Wochen nach dem Beginn meiner Tätigkeit im Krankenhaus und auch vier Wochen nach meinem dritten Staatsexamen. Der zuständige Oberarzt begann mir die Krankheitsgeschichte des ersten Patienten zu erklären als wir in das Patientenzimmer gingen. Es handelte sich um einen ca. 250 kg schweren Mann mittleren Alters, der sich aktu- ell in einem septischen Schock bei tertiärer Peritonitis befand. Die Funk- tion seiner Nieren wurde durch ein kontinuierliches Verfahren ersetzt (continuous veno-venous haemodia- filtration, CVVHDF), der Patient er- hielt neben hohen Dosierungen von Katecholaminen auch Humanalbu- min, zwei Antibiotika, ein Antimyko- tikum und die in dieser Situation noch notwendigen Teile seiner Haus- medikation. „Ich würde ihm sein Sim- vastatin ungern absetzen in dieser Si- tuation, aber ich weiss nicht, ob das richtig dosiert ist. Was meinen Sie?“ Es war die erste fachliche Frage an mich auf der Intensivstation. Dosie- rung eines Arzneimittels bei einem Dialyseverfahren. Und noch war ich sicher, dass ich das einfach nur ir- gendwo nachschlagen müsste, um in ein paar Minuten, vielleicht auch in einer Viertelstunde mit der Antwort glänzen zu können. Noch. Während uns allen früh bewusst wird, dass sich Empfehlungen aus Fachinformationen im klinischen All- tag schnell erschöpfen (insbesondere bei speziellen Patientenpopulationen oder der Anwendung außerhalb der Zulassung), vertrauen wir oft aus- schließlich auf die Datenbanken und Fachbücher, die wir zur Verfügung haben. Doch dieses Vertrauen kann schnell erschüttert werden, wenn man sich etwas Zeit nimmt, um un- terschiedliche Quellen hinsichtlich ih- rer Empfehlungen zu vergleichen. So geschehen zum Beispiel im Jahr 2005: Die Autoren einer Arbeit verglichen die Dosierungsempfehlungen von 100 häufig im Krankenhaus verwen-
Dr. Dagmar Horn (Münster) ist Apothekerin und Anti- biotic Stewardship (ABS)-Expertin (DGI). Sie leitet die Stati- onsapotheker am UniversitätsklinikumMünster (UKM) und ist Teil des ABS-Teams. Sie ist u.a. Vorstandsmitglied des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen der Deutschen Krankenhausapotheker (ADKA), Mitglied im ADKA-Aus- schuss Antiinfektive Therapie und im Beirat der MRE- Netzwerke Nordrhein-Westfalen (MRE.NRW).
Dr. Dagmar Horn
deten Arzneimitteln anhand von vier wichtigen pharmazeutischen Fachbü- chern, die regelmäßig in Krankenhäu- sern von klinischen Pharmazeuten bei ihrer Arbeit benutzt werden. 1 Ver- glichen wurden die Angaben im Bri- tish National Formulary (BNF), im Martindale: The Complete Drug Refe- rence, im American Hospital Formu- lary System (AHFS) und in Drug Prescribing in Renal Failure. Es zeigte sich, dass die zugrunde liegende wis- senschaftliche Basis oft überhaupt nicht transparent dargestellt wurde, Quellenangaben fehlten, uneinheitli- che Definitionen der Niereninsuffizi- enz verwendet wurden und sich die einzelnen Empfehlungen zum Teil deutlich unterschieden. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über bzw. eine kleine Ein- führung in die typischen und alltägli- chen Probleme bei der Dosierung von Arzneimitteln bei Patienten mit ein- geschränkter Nierenfunktion und Pa- tienten mit Nierenersatzverfahren gegeben werden, und wie man sich diesen ganz praktisch nähern kann, um das eine oder andere vielleicht sogar zu lösen. Denn oftmals hilft be- reits das Bewusstsein für bestehende Unsicherheiten dabei, schwerwiegen- de Fehler zu vermeiden. Auf spezielle Patientengruppen, wie Kinder, geriat- rische Patienten, Patienten mit Adi- positas oder auf einzelne Arzneistoff- gruppen kann hier aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht eingegangen werden.
Grundlagen der Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz
Eine Vielzahl von Arzneistoffen wird renal ausgeschieden und sollte bei Vorliegen einer eingeschränkten Nierenfunktion in ihrer Dosierung angepasst werden. Hinzu kommt, dass auch die Elimination einiger aktiver Metaboliten über die Niere erfolgt und hier eine Akkumulation möglich ist. Ebenso können auch nicht-renale Aus- scheidungswege, wie z. B. der hepatische Metabolismus, bei Patienten mit Nieren- funktionsstörungen reduziert sein. 2 Im Tierversuch zeigte eine akute Nierenschä- digung eine Auswirkung auf die Aktivität einzelner Cytochrom P450-Enzyme (CYP). 2 Auch die Clearance (CL) von Substraten von P-Glykoprotein (P-gp) waren ebenso wie die Aktivität der Organischen Anio- nen-Transporter (OAT) reduziert. 2 Ob und wie weit sich diese Erkenntnisse jedoch aus dem Tierversuch auf den Menschen übertragen lassen, ist aktuell unklar. Ver- mutlich ist der Umfang der Einschränkung bei chronischer Niereninsuffizienz (CKD) etwas größer als bei einer akuten Nieren- schädigung (AKI), da Patientenmit AKI ins- gesamt noch eine höhere Arzneistoffaus- scheidung haben als Patienten mit CKD. Wie genau ein Arzneistoff in seiner Dosierung an die Nierenfunktion ange- passt werden muss ist dabei abhängig von seiner individuellen therapeutischen Breite. Arzneistoffe, die auch in hohen Dosierungen nur in seltensten Fällen zu schweren Nebenwirkungen führen, wie
AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal / 17
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