Mitteilungsblatt 1/2022, 3. Februar 2022
RATGEBER APOTHEKENPRAXIS
Absetzsymptomatik von Antidepressiva Absetzsymptomatik von Antidepressiva – ein unterschätztes Problem?
> Der 39-jährige, sonst gesunde Herr J. leidet an Depressionen, die neben einer Gesprächstherapie mit Cipramil® 20mg (Citalopram) behandelt werden. Da er seit Be- handlungsbeginn an anhaltender Müdigkeit leidet, soll die medika- mentöse Therapie auf Bupropion 150mg umgestellt werden. Weite- re Arzneimittel nimmt er bisher nicht ein.
Sein Psychiater empfiehlt ihm, das Cipra- mil® mit Beginn der Bupropion-Einnahme zunächst für zwei Wochen auf 10mg zu reduzieren und erst danach ganz abzuset- zen. Nach dem Absetzen entwickelt der Patient Schwindelattacken und starke Kopfschmerzen, die ihn im Alltag massiv einschränken. Hintergrund: Obwohl Citalopram nicht zu den sedierenden, sondern zu den eher antriebssteigernden Antidepressiva zählt, wird Schläfrigkeit als sehr häufige Ne- benwirkung klassifiziert. Ein Wechsel auf Bupropion, welches seine Wirkung haupt- sächlich über eine Reuptake-Hemmung der Catecholamine Noradrenalin und Do- pamin entfaltet und nicht müde macht, erscheint also in dieser Situation plausibel. Aufgrund der unterschiedlichen Wirkme- chanismen von Citalopram und Bupropi- on kann und sollte die Umstellung über- lappend erfolgen [1]. Zwar besteht bei gleichzeitiger Anwendung von SSRI und Bupropion ein gewisses Interaktionspo- tenzial im Sinne einer erhöhten Krampf- neigung. Außerdem hemmt Bupropion als CYP2D6-Inhibitor den Metabolismus verschiedener SSRI. Bei relativ niedrigen Dosen erscheint das Risiko jedoch tolera- bel im Vergleich zu einer Gefährdung des Therapieerfolgs, wenn die Bupropion-Ein- nahme erst nach vollständigem Absetzen des SSRI begonnen würde. Absetzsymptome bei Antidepressiva sind seit Langem bekannt. Bei selektiven Serotonin- oder Serotonin-Noradrenalin- Reuptakehemmern werden nach dem Absetzen z. B. Schwindel, Kopfschmerzen, grippeähnliche Symptome, Benommen- heit, Schlafstörungen, stromschlagartige
Absetzsymptome nach Beendigung einer Therapie mit Antidepressiva sind weit verbreitet und können sehr belastend sein. Foto: ©Drobot Dean – stock.adobe.com
der Fall war [3]. Nach Abklingen der Symp- tome kann ein erneuter Reduktionsver- such begonnen werden. Auf diese Weise brauchen Patienten manchmal mehrere Monate, um die Therapie sehr kleinschrit- tig – zum Teil auch mit Kapselherstellung in der Apotheke – vollständig auszuschlei- chen. Dieses Vorgehen wird auch als „mi- cro-tapering“ bezeichnet. Daten zur opti- malen Absetzstrategie fehlen jedoch. Einem Teil der Patienten gelingt das Absetzen auch dauerhaft nicht. Das Aus- maß dieses Phänomens ist nicht systema- tisch untersucht. Bei einer Umfrage unter 1.800 Anwendern von Antidepressiva berichteten 55 Prozent von Beschwerden bei Absetzversuchen. 27 Prozent schätz- ten sich selbst als abhängig ein [4]. 44 Prozent der Befragten nahmen die Anti- depressiva seit mehr als drei Jahren ein. Inwieweit der drastisch angestiegene An- tidepressivaverbrauch in der westlichen Welt mit Langzeitgebrauch durch fehlge- schlagene Absetzversuche zu erklären ist, ist unzureichend untersucht. Zunächst hoffte Herr J., die Symptome tolerieren zu können, bis sie von selbst abklängen. Nach zwei Wochen entschei- det er sich jedoch nach Rücksprache mit
Missempfindungen, Erregtheit und Angst- zustände beschrieben [2]. Die Symp- tome klingen zwar in der Regel nach we- nigen Wochen ab, können aber dennoch sehr belastend sein und in Einzelfällen auch über Monate anhalten. Vor allem über Venlafaxin und Paroxetin wird in diesem Zusammenhang häufig berichtet. Allerdings treten die Probleme auch bei anderen Substanzen auf. Herausfordernd ist die Unterscheidung zwischen Ent- zugssymptomatik und unerwünschten Wirkungen des neu angesetzten Arznei- mittels, denn auch Bupropion kann Kopf- schmerzen und Schwindel hervorrufen. Im vorliegenden Fall berichtet der Patient jedoch, die nun aufgetretenen Beschwer- den schon aus Situationen zu kennen, in denen er die Einnahme des Citaloprams an einem oder zwei Tagen vergessen hatte, was auf eine Absetzsymptomatik hindeutet. Zur Vorbeugung von Absetzerschei- nungen wird ein langsames Ausschlei- chen über mehrere Wochen empfohlen, wie es im vorliegenden Fall auch durch- geführt wurde. Wenn Beschwerden auf- treten, soll die letzte Dosis wieder einge- nommen werden, bei der dies noch nicht
10 / AKWL Mitteilungs blatt 01-2022
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