Fortbildung aktuell – Das Journal Nr. 4/2021

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[Da s Jou r na l ]

04 · 2021

Über die Sicherheit von Impfungen, die Kunst des Deprescribing und Medikationsanalyse in der Praxis

Seite 4 Medikationsanalyse Seite 10 Deprescribing

Seite 16 Impfreaktion, Impfschaden oder Impfkrankheit?

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EDITORIAL

Editorial

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor Ihnen liegt die diesjährige zweite Ausgabe unseres Fortbildungsjour- nals, die mit insgesamt drei Beiträgen erneut ein sehr breites Themen- spektrum abdeckt. Damit bieten wir Ihnen gerade in Zeiten der immer noch andauernden Corona-Pandemie und dadurch weiterhin abgesag- ten Präsenzveranstaltungen die Möglichkeit, sich fortzubilden und durch erfolgreich absolvierte Lernerfolgskontrollen Fortbildungspunkte zu sammeln. Ina Richling erklärt in Ihrem Aufsatz, wie eine Medikationsanalyse in der Praxis funktionieren kann. Exemplarisch wird hier die Medikation eines Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion unter die Lupe ge- nommen. Richling zeigt auf, dass Dosisanpassungen an die Nierenfunk- tion immer noch zu wenig Beachtung finden und unter welchen Voraus- setzungen sich die Pharmazeut*innen in das interdisziplinäre Team mit ihremWissen einbringen können. Dr. Verena Stahl spricht in Ihrem Beitrag übers „Deprescribing“ und damit über die „Kunst des achtsamen Wegstreichens von Arzneimitteln“. Wichtig: Hier geht es nicht um einfaches Absetzen von Arzneimitteln, sondern um einen systematisch und sorgfältig durchzuführenden Pro- zess. Die Gründe fürs Deprescribing werden ebenso thematisiert wie empfohlene Vorgehensweisen. Mögliche Effekte sind enorm: Von der Reduktion der Sturzrate über eine Verbesserung der kognitiven und psy- chomotorischen Funktionen bis hin zur Reduktion der Hospitalisierungs- und Mortalitätsrate. Dr. Ilse Zündorf und Professor Dr. Theo Dingermann greifen mit ih- rem Aufsatz ein Thema auf, das wie kaum ein anderes den Diskurs in der Pandemie bestimmt: Es geht um die Sicherheit von Impfungen. Die Autor*innen verdeutlichen trennscharf und präzise das, was im öffent- lich-medialen Diskurs immer wieder „unter die Räder“ kommt: die Un- terschiede zwischen Impfreaktion, Impfkomplikation und Impfschaden. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Lesen, Lernen und Punkten!

Gabriele Regina Overwiening Präsidentin der Apotheker- kammer Westfalen-Lippe

Frank Dieckerhoff Vizepräsident der Apotheker- kammer Westfalen-Lippe

Impressum

„Fortbildung aktuell“ der Apothekerkammer West- falen-Lippe erscheint zweimal jährlich als „Fortbil- dung aktuell – Themen & Termine“ und zweimal pro Jahr als „Fortbildung aktuell – Das Journal“ Herausgeber: Apothekerkammer Westfalen-Lippe Bismarckallee 25 · 48151 Münster Tel.: 0251 520050 · Fax: 0251 52005-69 E-Mail: info@akwl.de · Internet: www.akwl.de

Redaktion/Grafiken: Dr. Sylvia Prinz

Layout: Sebastian Sokolowski

Mit freundlichen, kollegialen Grüßen

Autoren dieser Ausgabe: Ina Richling, Dr. Verena Stahl, Dr. Ilse Zündorf, Prof. Dr. Theo Dingermann

Titelfoto: ©Fotolia/ P&G

Gabriele Regina Overwiening

Frank Dieckerhoff

Der Bezugspreis für „Fortbildung aktuell – The- men & Termine“ und „Fortbildung aktuell – Das Journal“ ist für die Mitglieder der Apothekerkammer Westfalen-Lippe im Kammerbeitrag enthalten.

Auflage: 7.400 Exemplare

Nachdruck – auch in Auszügen – nur mit schriftli- cher Genehmigung des Herausgebers. Gedruckt auf Papier aus 100 Prozent recycelten Fasern. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier.

AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal / 3

MEDIKATIONSANALYSE

Medikationsanalyse aus der Praxis Ein stationärer Patient mit eingeschränkter Nierenfunktion

Der 83-jährige Patient Robert P. leidet seit Jahren an Diabetes mellitus Typ 2, Vorhofflimmern, arterieller Hyperto- nie und an einer chronischen Nierener- krankung. Aufgrund eines Schlaganfalls befand sich der Patient in einer Reha- Klinik. Durch den Schlaganfall besteht zurzeit eine Hemiplegie (Halbseitenläh- mung) und eine Dysphagie. Aufgrund eines fieberhaften Infektes wird er nun in die Klinik eingewiesen. Es besteht der Verdacht auf eine Aspirationspneumo- nie. Die Medikation bei Aufnahme ins Krankenhaus ist in Tabelle 1 aufgeführt. Bei dem Aufnahmegespräch zu seiner Medikation gibt Herr P. an, dass er noch Calcium Vitamin D3 Kautabletten (1000 mg/800 I.E.) zweimal täglich anwendet. Herr P. wiegt zurzeit 69 kg bei einer Größe von 172 cm (BMI 23) und der Blut- druck liegt meist bei 130/80 mmHg.

Ina Richling, PharmD. (UFL, USA) ist Apothekerin in der Zentralapotheke der Katholischen Kliniken im Märki- schen Kreis, Mitglied der Kommission Arzneimittelthe- rapie-Management (AMTM) und Arzneimitteltherapie- sicherheit (AMTS) der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) und ist Herausgeberin des Buches „Medi- kationsanalyse – Grundlagen und Fallbeispiele“.

Ina Richling

Therapieziel Blutdruck

Konsil von ärztlicher Seite an den Renal Pharmacist (Nierenpharmazeut, s. Kas- ten) angefordert mit der Bitte, die Medi- kation zu überprüfen und die Dosierung von Meropenem festzulegen. In Tabelle 2 befinden sich die aktuellen Laborpara- meter von Herrn P. In einer Medikationsanalyse sollten am Anfang patientenindividuelle The- rapieziele festgelegt werden. Folgende Therapieziele sollten für Herrn P. überlegt werden:

Die ESC Leitlinie „Arterielle Hypertonie“ (1) empfiehlt für Patienten >65 Jahre mit Diabetes einen systolischen Blutdruck zwischen 130-140 mmHg und einen dia- stolischen Blutdruck unter 80 mmHg. In Studien findet man mitunter auch RENAL PHARMACIST (NIEREN- PHARMAZEUT) Während Apotheker als Renal Phar- macist im Krankenhaus in vielen Län- dern etabliert sind, ist dies in Deutschland nur punktuell der Fall. Die Stiftung Patient & Klinische Phar- mazie hat das Ziel, die Etablierung der Klinischen Pharmazie insbesondere im stationären Bereich in Deutsch- land aktiv und breit zu fördern. Dazu hat sie deutschlandweit das Projekt Renal Pharmacist ausgeschrieben. Ge- fördert werden vier Projekte eines Re- nal Pharmacist, die, angepasst an die jeweilige Situation des Krankenhau- ses, klinische Pharmazie für die Be- treuung von niereninsuffizienten Pa- tienten konkret umsetzen. Ziel ist die Förderung von Praxisprojekten nicht- universitärer Krankenhausapothe- ken. Die Katholischen Kliniken im Märkischen Kreis in Iserlohn sind ein Krankenhaus von vier Häusern bun- desweit, die gefördert werden. Der vorgestellte Fall ist von der gesamten Projektgruppe bearbeitet worden.

Laborparameter klinische Chemie

Aufgrund der eingeschränkten Nieren- funktion wird ein pharmazeutisches

TABELLE 1: Medikationsplan von Patient Robert P. bei Aufnahme

Wirkstoff

Dosierung

Anwendungsgrund

Apixaban 5 mg

1-0-1

nicht-valvuläres Vorhofflimmern

Bisoprolol 5 mg

1-0-0

nicht-valvuläres Vorhofflimmern

L-Thyroxin 75 µg

1-0-0 1-0-0 1-0-0

Hypothyreose

Ramipril/HCT 5/12,5 mg

arterielle Hypertonie arterielle Hypertonie

Lercanidipin 10 mg

Cholecalciferol 1000 IE

0-1-0

Vitamin D3-Mangel

Metformin 500 mg Sitagliptin 50 mg Pantoprazol 20 mg

1-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-0

Diabetes mellitus Typ 2 Diabetes mellitus Typ 2

gastrointestinale Protektion

Folsäure 5 mg

Substitution

Dapagliflozin 10 mg

Diabetes mellitus Typ 2 Osteoporoseprophylaxe Hypercholesterinämie

Cholecalciferol 20.000 IE

1-0-0 dienstags

Simvastatin 40 mg

0-0-1

Meropenem

soll neu angesetzt werden (Pneumonie)

4 / AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal

INA RICHL ING

TABELLE 2: Aktuelle Laborparameter

Leberfunktion sollte bei diesem Patien- tenkollektiv mit einer niedrigen Statindo- sis begonnen werden. Nach dem Aufnahmegespräch mit Herrn P. ergeben sich folgende mögliche Arznei- mittelbezogene Probleme (ABPs): Cholecalciferol (Vitamin D3) Bei gleichzeitiger Anwendung von Calci- um-, Vitamin D- und Thiazid-Präparaten ist das Risiko fur eine Hypercalcämie er- höht, da Vitamin D die Resorption von Calcium erhöht und Thiazid-Diuretika in- direkt die Calciumausscheidung im Harn vermindern. Der Patient nimmt zurzeit 3 Präparate mit Cholecalciferol ein. Durch die Mehrfacheinnahme und der Interak- tion mit HCT besteht das Risiko einer Hy- percalciämie mit weiterer Schädigung der Niere. Sowohl das 25-OH-Cholecalciferol als auch der Calciumspiegel sind imNorm- bereich, so dass zwei Präparate mit Vita- min D3 abgesetzt werden können. Dosisanpassung an die Nierenfunktion für die zurzeit eingesetzten Arzneistoffe (dosing.de/Fachinformationen) Aus dem Laborblatt des Patienten gehen folgende Daten hervor: • Serum Kreatinin: 2,02 mg/dl • eGFR: 29 ml/min/1,73m 2 (CKD-EPI) (Stadium G4 der chronischen Nie- renerkrankung, s. Tabelle 4) Doppelmedikation und Interaktion

potenzielle Hypoglykämierisiko und die weitere Lebenserwartung des Patienten. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft emp- fiehlt in der S2k-Leitlinie „Diabetes mel- litus im Alter“ (5) auch einen Zielkorridor für Blutdruck und HbA1c nach Pflegeab- hängigkeit, kognitiver Einschränkung und Lebenserwartung (s. Tab.3). Die Dyslipidämie-Leitlinie der ESC (6) emp- fiehlt bei Älteren mit erhöhtem Neben- wirkungsrisiko eine Statintherapie mit geringerer Intensität. Das LDL-C sollte auf <1,8 mmol / l (<70 mg / dl) gesenkt oder um ≥ 50% reduziert werden, wenn der Ausgangswert darüber liegt. Statine werden mit zunehmendem Alter seltener eingesetzt, obwohl in Studien (7-9) gezeigt wurde, dass auch Ältere von einer lipidsenkenden Therapie profitie- ren können. Als Sekundärprophylaxe ist die Statintherapie für Patienten über 65 Jahre mit kardiovaskulären Erkrankungen genauso indiziert wie für jüngere Patien- ten. In der Primärprevention bei älteren Patienten werden Statine nach kardiovas- kulärem Risiko eingesetzt. Patienten über 75 Jahre und einem sehr hohen Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen sollten demnach auch mit Statinen behandelt werden. Aufgrund vonWechselwirkungen und/oder eingeschränkter Nieren- oder Therapieziel LDL-Cholesterin Einsatz von Statinen

Referenzwert aktueller Wert

Natrium

132-146 mMol/l 3,70-5,40 mMol/l 2,20-2,65 mMol/l

140 4,51 2,65

Kalium

Calcium

25-OH-Chole- calciferol

> 20 µg/l

26

Folsäure

>5,4 µg/l <174 IU/l

13,2

CK

53

Bilirubin gesamt

<1,00 mg/dl

0,41 24,0 21,0 51,0 121 152

GOT GPT GGT

10-50 IU/l

<50 IU/l

<64,0 IU/l

AP

40-129 IU/l 60-99 mg/dl

Glucose

HbA1c

4,40-5,80 % 7,0

Serum-Kreatinin <1,20 mg/dl

2,02

GFR/CKD-EPI

>90 ml/ min/1,73m2 <200 mg/dl <200 mg/dl

29

Cholesterin Triglyceride

140 130

HDL-Cholesterin 40-60 mg/dl

45 69 13

LDL-Cholesterin

<155 mg/dl <0,50 mg/dl

CRP

<150/90mmHg als Ziel (2-4). Man kann so- mit eher von einem Blutdruck-Zielkorridor sprechen als von festen Zielwerten.

Therapieziele Diabetes

Ein individueller Zielkorridor für älte- re Patienten ist auch hier sinnvoll, die- ser berücksichtigt unter anderem das

TABELLE 3: Zielkorridore fur altere Menschen mit Diabetes (*nach [Landgraf 2015], **nach [James 2014]; alle anderen Zielwerte nach [American Diabetes Association (ADA) 2015]); S2k-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter der DDG 07/2018**nach [James 2014]; alle anderen Zielwerte nach [American Diabetes Association (ADA) 2015]); S2k-Leitlinie Diagnos- tik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter der DDG 07/2018

Patientengruppe

Begründung

HbA1c

Blutglukose vor den Mahlzeiten

Blutdruck (bei den über 80-Jähri- gen gelten die "Hypertension in the Very Elderly Trial"-Zielwerte)

Wenig Begleiterkrankungen Kognitiv nicht eingeschränkt (funktionell unabhängige Patienten) Sehr alte oder multimorbide oder kognitiv leicht eingeschränkte Patienten (funktionell leicht abhängige Patienten) Pflegeabhängige oder kognitiv stark eingeschränkte Patienten (funktionell stark abhängige Patienten)

Lebenserwartung >15 Jahre Vorteile einer intensiven Therapie können erlebt werden. Lebenserwartung <15 Jahre Vorteile einer intensiven Therapie können nicht erlebt werden. Erhöhtes Hypoglykämie- und Sturzrisiko

6,5-7,5% (47,5-58,5 mmol/mol)

100-125 mg/dl 5,6-6,9 mmol/l

Über 80 Jahre: < 150 mmHg 60-80 Jahre: <140 mmHg (ESC/ESH)

≤8,0% (63,9 mmol/mol)

100-150 mg/dl 5,6-8,3 mmol/l

Sollte <150 mmHg

Begrenzte Lebenserwartung

< 8,5% (69,4 mmol/ mol)

110-180 mg/dl 6,1-10 mmol/l

Individuelle Therapieentscheidung, die den Gesamtkontext des Patienten einbezieht (da keine Zielwertevidenz)

End of Life

Individuell mit dem Ziel der Symptomfreiheit

AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal / 5

MEDIKATIONSANALYSE

• wenn ≥ 2 Faktoren zutreffen: 2,5 mg alle 12 h. • CLkrea 15 - < 30 ml/min: 2,5 mg alle 12 h. • CLkrea < 15 ml/min: „nicht empfohlen“.

• Krea-Clearance 25 - <50 ml/min: 1000 mg alle 12 h (max. 2000 mg alle 12 h) • Krea-Clearance 10 - <25 ml/min: 500 mg alle 12 h (max. 1000 mg alle 12 h) → Dosisintervall bzw. Dosis anpassen → Als Initialdosis sollte der Patient die gleiche Dosis, wie bei Nierengesunden erhalten (11), erst danach sollte die Dosierung an die Nierenfunktion angepasst werden. Da auf den peripheren Stationen noch keine kontinuierlichen oder prolongierten Antibiotikainfusionen etabliert wurden, lautet die Empfehlung Meropenem als Kurzinfusion an Tag 1 mit 1000 mg alle 8 Stunden zu dosieren und ab Tag 2 die Do- sierung an die Nierenfunktion anzupassen (1000 mg alle 12 h) unter engmaschiger Kontrolle der Nieren- und Infektparame- ter, um auf mögliche Veränderungen der Nierenfunktion mit weiteren Dosisanpas- sungen reagieren zu können. Die Kreatinin-Clearance sollte mit der Cockcroft-Gault-Formel geschätzt wer- den. Die Berechnung der GFR nach CKD- EPI oder MDRD kann ggf. zu überhöhten Dosen führen (12-14). Bei der Indikation nicht-valvuläres Vorhofflimmern gelten folgende Dosisanpassungen: • CLkrea ≥ 30 ml/min: abhängig von fol- genden Faktoren: · Serum-Kreatinin ≥ 1,5 mg/dl (133 μmol/l) · Alter ≥ 80 Jahre · Körpergewicht ≤ 60 kg • wenn ≤ 1 Faktor zutrifft: 5 mg alle 12 h. Apixaban DER Q 0 -WERT Der Q 0 -Wert bezeichnet mit der extra- renalen Dosisfraktion den Teil der bioverfugbaren Dosis eines Arznei- stoffs, der bei regulärer Nierenfunkti- on nicht renal eliminiert, sondern auf extrarenalemWeg (z. B. biliär) ausge- schieden wird. Er ist wirkstoffspezi- fisch. Ist Q 0 = 1 wird der Wirkstoff nicht renal eliminiert. Je kleiner der Q 0 -Wert eines Wirkstoffes ist, desto stärker wird er über die Nieren ausge- schieden.

Die angegebene eGFR (estimated GFR = geschätzte glomeruläre Filtrationsrate) des Laborberichtes ist eine auf die Kör- peroberfläche normierte Formel, diemeist nach CKD-EPI (Chronic Kidney Disease Epidemiology Collaboration) oder MDRD (Modification of Diet in Renal Disease) be- rechnet wurde, da die Parameter zur Kör- pergröße und Gewicht den Laboren nicht vorliegen. Für die meisten Arzneistoffe, die renal eliminiert werden, kann bei Pati- enten mit durchschnittlichem Körperbau und Gewicht sowohl eine eGFR (z. B. CKD- EPI) als auch die Kreatinin Clearance nach Cockcroft-Gault zur Berechnung der Nie- renfunktion verwendet werden. Für be- stimmte Wirkstoffe, wie nephrotoxische Arzneimittel oder Arzneimittel mit rena- ler Clearance und enger therapeutischer Breite, sollte die in den Fachinformationen empfohlene Schätzformel für die Dosisan- passung verwendet werden. Je nach An- gaben in den Fachinformationen der ein- zelnen Arzneimittel braucht man fur eine Dosisanpassung an die Nierenfunktion die Kreatinin-Clearance in ml/min (nach Cockcroft-Gault), die standardisierte eGFR in ml/min/1,73m 2 (CKD-EPI oder MDRD) oder die auf die patientenspezifische Kör- peroberfläche zurück gerechnete eGFR in ml/min (Berechnung der sogenannte rela- tive eGFR: eGFR/1,73 x KOF). Für den Patienten errechnete Werte: • eGFR (nach CKD-EPI): 29 ml/min/1,73 2 • eGFR auf patientenspezifische Kör- peroberfläche zurück gerechnet: 30 ml/min • errechnete Kreatinin-Clearance (nach Cockcroft-Gault) 27 ml/min In der Fachinformation oder auf der Inter- netseite dosing.de findet man wirkstoff- bezogene Angaben zur individuellen Do- sierung von Arzneimitteln bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion. Do- sing.de wurde von der Abteilung Klinische Pharmakologie und Pharmakoepidemiolo- gie des Universitätsklinikums Heidelberg entwickelt. Hier wird auch der Q 0 -Wert der einzelnen Wirkstoffe angegeben (s. Kasten).

Lercanidipin

Lercanidipin hat zwar einen Q 0 -Wert von 1 trotzdem gibt der Hersteller an, dass Ler- canidipin Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion (eGFR < 30 ml/min) nicht gegeben werden sollte. Empfehlung(en) zur Dosierung: • Bei einer eGFR zwischen 30 bis 80 ml/ min: 10 mg alle 24 Stunden (max. 20 mg alle 24 Stunden) • Bei einer eGFR < 30 ml/min (ein- schließlich Dialyse-Patienten) soll- te Lercanidipin nicht gegeben wer- den und ist laut Fachinformation kontraindiziert. In der Literatur findet man eine Studie mit acht Patienten mit mittel- bis hochgra- diger Niereninsuffizienz (eGFR 12-38 ml/ min/1,73 m 2 ), bei denen die Pharmakoki- netik nach einer Einzeldosis unverändert war [16]. Somit besteht kein erhöhtes Ri- siko für den Patienten durch die Einnah- me von Lercanidipin, allerdings liegt man mit dem Einsatz im off-label Bereich. Ein Wechsel von Lercanidipin auf Amlodipin wäre möglich, da zwischen dem Grad der Niereninsuffizienz und den Veränderun- gen der Amlodipinplasmaspiegel keine Korrelation besteht, sodass die üblichen Dosierungen empfohlen werden. Bei einer Kreatinin-Clearance unter 30 ml/ min sollten Dosierungen über 10 mg pro Tag sorgfältig erwogen und die Behand- lung engmaschig überwacht werden. Ein dosisäquvivalenter Wechsel auf Atorvas- tatin ist sinnvoll, da hier keine Dosisanpas- sung an die Niereninsuffizienz erforder- lich ist. Simvastatin (17)

Sitaglipitin (18)

Sitagliptin kann sowohl bei eingeschränk- ter Nierenfunktion, als auch bei Hämodi- alysepatienten in reduzierter Dosis einge- setzt werden.

Meropenem (10)

• Krea-Clearance ≥ 50 ml/min: 1000 mg alle 8 h (max. 2000 mg alle 8 h)

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INA RICHL ING

Medikament ohne Indikation

Patienten mit Diabetes mellitus eine zu- sätzliche glucosesenkende Behandlung in Betracht gezogen werden, falls eine wei- tere glykamische Kontrolle erforderlich ist.

• eGFR > 45 ml/min: max. 100 mg/d • eGFR 30 - 45 ml/min: max. 50 mg/d • eGFR < 30 ml/min: max. 25 mg/d

Da der Folsäurespiegel im Normberiech liegt, ist eine Substitution von Folsäure nicht mehr notwendig und die Tablette kann abgesetzt werden.

Metformin (19,20)

Hydrochlorothiazid (HCT)

Metformin hat einen Q 0 -Wert von 0,01 und eine Niereninsuffizienz ist immer ein Risikofaktor für Laktatazidose. Daher sollte die Dosierung an die Nierenfunk- tion angepasst werden und das Risiko für Laktatazidose überprüft werden. Bei akuten Erkrankungen sollte Metformin pausiert werden, vor allem wenn diese mit einer Exsikkose oder gastrointestina- len Symptomen einhergehen. Der Beginn einer Laktatazidose kann schleichend und die Symptomatik unspezifisch sein (z. B. Erbrechen, Bauchschmerzen mit Muskel- krämpfen, gestörtes Allgemeinbefinden mit starker Müdigkeit sowie Schwierig- keiten beim Atmen). Bei derartigen Be- schwerden muss sofort Metformin pau- siert werden. Ab einer GFR unter 30 ml/ min ist Metformin laut Fachinformation kontraindiziert. Laut Renal Drug Hand- book (20) kann Metformin unter engma- schigem Monitoring der Nierenfunktion und auf das Risiko einer Laktatazidose bei einer eGFR zw. 45-10 ml/min noch mit 25 % der Dosis eingesetzt werden. Dosierung laut Fachinformation • eGFR 45 - 60 ml/min: max. 2000 mg/d • eGFR 30 - 45 ml/ min:max. 1000 mg/d • eGFR < 30 ml/min: kontraindiziert Basierend auf der Nierenfunktion ist keine Dosisanpassung erforderlich. Dapagliflo- zin hat sogar jetzt eine Zulassung zur Be- handlung der chronischen Niereninsuffizi- enz jeglicher Genese. Aufgrund begrenzter Erfahrung wird der Beginn einer Behand- lung mit Dapagliflozin bei Patienten mit einer eGFR < 25 ml/min nicht empfohlen. Bei Patienten mit Diabetes mellitus ist die glucosesenkende Wirksamkeit auf- grund des Wirkungsmechanismus in der Niere von Dapagliflozin reduziert, wenn die glomerulare Filtrationsrate (eGFR) < 45 ml/min beträgt. Bei Patienten mit schwerer Nierenfunktionsstorung bleibt sie wahrscheinlich aus. Wenn die eGFR unter 45 ml/min fällt, sollte daher bei Dapagliflozin (21)

Plan

Bei Patienten mit einer eGFR unter 30 ml/min ist HCT kontraindiziert. Da der Blutdruck mit 130/80 mmHg im Zielbe- reich liegt kann HCT unter engmaschiger Kontrolle der Blutdruckwerte abgesetzt werden.

Die Umstellung der Medikation von Herrn P ist Tabelle 5 zu entnehmen.

Empfehlungen

Die Empfehlungen, wie die Medikation von Herrn P. umgestellt werden soll, zeigt Tabelle 6.

Stadien der chronischen Nierenerkrankung

Die Kidney Disease Improving Global Out- comes Initiative (KDIGO) hat 2012 [15] fur die Bestimmung des Schweregrades der chronischen Nierenerkrankung Stadien definiert, die fur die Therapieentscheidun- gen und zusammen mit dem Grad einer Mikroalbuminurie auch zur Prognose her- angezogen werden (s. Tab. 4).

Monitoring

Es erfolgt einMonitoring folgenderWerte: • Infektparameter, wie Fieber, CRP, Pro- calcitonin und Leukozyten • Blutdruck und Puls • Blutzucker und HbA1c-Werte • Nierenparameter • Elektrolyte • Urogenitalinfektionen

Anpassung der antidiabetischen Therapie

Pharmazeutisches Konsil in der Patientenakte

Bei der Überlegung, ob die antidiabeti- sche Therapie angepasst werden muss, sollten die geriatrischen Zielkorridore der S2k-Leitlinie „Diabetes mellitus im Alter“ berücksichtigt werden (s. Tab. 2). Das The- rapieziel bei unserem Patienten liegt bei einem HbA1c Wert < 8 %. Zurzeit liegt dieser bei 7,0 %. Damit kann ein mode- rater HbA1c-Anstieg nach Absetzen von Metformin, Dosisreduktion von Sitagliptin und verminderte Wirksamkeit des Dapa- gliflozins aufgrund der eingeschränkten Nierenfunktion erstmal in Kauf genom- men werden. Dem nephro- und kardioprotektiven Effekt des Dapagliflozins steht ein er- höhtes Risiko bei geriatrischen Patienten für Dehydratation, Stürze und Mykosen gegenüber. Hier sollte der Patient im Gespräch sowohl über den Nutzen als auch die Risiken der Therapie aufgeklärt werden. Bei Überschreitung der Zielwerte und/ oder Symptomen einer Hyperglykämie müsste die Therapie erneut angepasst werden, dann wahrscheinlich in Form ei- ner Insulintherapie (z. B. ein abendliches Basalinsulin).

Im krankenhausinternen Informations- system besteht die Möglichkeit ein phar- mazeutisches Konsil in der Apotheke anzufordern. Hiermit kann bei speziellen patientenindividuellen Arzneimittelfra- gen rasch auf die Anfrage reagiert wer- den. Das Ergebnis des Konsils (s. Abb. 1) wird direkt in der digitalen Patientenakte dokumentiert.

Bericht im Arztbrief

Bei Entlassung des Patienten wird das pharmazeutische Konsil in den Arztbrief übernommen, so dass auch die niederge- lassenen Ärzte in Kenntnis über etwaige Anpassungen der Arzneimittel an die Nie- renfunktion in Kenntnis gesetzt werden.

Disclaimer

Die Behandlungsvorschläge des Patien- ten im Rahmen der Medikationsanaly- se geben die persönliche Meinung der Autorin wieder. Sie beruhen auf einer sorgfältig vorgenommen Analyse und

AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal / 7

MEDIKATIONSANALYSE

TABELLE 4: Stadien der chronischen Nierenerkrankung (nach KDIGO 2012 Clinical Practice Guideline for the Evaluation and Manage- ment of Chronic Kidney Disease. Kidney International Supplements 2013; 3: 5-14)

Albuminausscheidung im Urin (mg/g)

A1 Normal bis leicht erhöht

A2 Mäßig erhöht

A3 Schwer erhöht

Prognose der chronischen Niereninerkrankung

< 30

30-300

> 300

G1 G2

Normal oder hoch Leicht erniedrigt

≥ 90

Niedriges Risiko

Mäßiges Risiko Mäßiges Risiko

Hohes Risiko Hohes Risiko

60-89 Niedriges Risiko

Glomeruläre Flitrationsrate (ml/min/1,7 m 2 )

G3a G3b

Leicht bis mäßig erniedrigt Mäßig bis schwer erniedrigt

45-59 Mäßiges Risiko 30-44 Hohes Risiko 15-29 Sehr hohes Risiko

Hohes Risiko

Sehr hohes Risiko Sehr hohes Risiko Sehr hohes Risiko Sehr hohes Risiko

Sehr hohes Risiko Sehr hohes Risiko Sehr hohes Risiko

G4 G5

Schwer erniedrigt Nervenversagen

< 15

Sehr hohes Risiko

Praxis-Bedingungen. Insofern sind sowohl alternative Ansätze und Ergebnisse vor- stellbar als auch Abweichungen von der Zulassung oder Fachinformation möglich. Der Fall beruht teils auf tatsächlichen Gegebenheiten, teils auf Ergänzungen und Fiktion. Ihren Pharmakovigilanz-Ver- pflichtungen ist die Autorin nach eigenem Ermessen und nach eigener Bewertung nachgekommen.

TABELLE 5: Umstellung der Medikation. Arzneimittel

Grund Meropenem Kurzinfusion am Tag 1: 1000 mg alle 8 Stunden ab Tag 2 Intervallverlängerung auf alle 12 Stunden Apixaban Dosisreduktion aufgrund der eingeschränkten Nierenfunktion auf 2,5 mg 1-0-1 HCT absetzen, da die Blutdruckwerte eher niedrig sind; Interaktion mit Cholecalciferol und Pantoprazol (Gefahr der Hypercalciämie und Hypomagnesiämie) Metformin pausieren aufgrund der eingeschränkten Nierenfunktion; Blutzucker überwachen Sitagliptin Dosisreduktion aufgrund der eingeschränkten Nierenfunktion auf 25 mg 1-0-0 Folsäure Folsäurespiegel im Normbereich, keine Notwendigkeit der Substitution (Deprescri- bing hier sinnvoll) Cholecalciferol Interaktion mit HCT, Pseudodoppelmedikation, Gefahr der Hypercalciämie; stattdessen Cholecalciferol 1000 IE pro Tag Dapagliflozin beibehalten; Indikationswechsel: jetzt chronische Nierenerkrankung, vorher Diabetes mellitus Simvastatin Wechsel auf ein Atorvastatin 20 mg Lercanidipin Wechsel auf Amlodipin erwägen

HILFE AUS DEM NETZ • Dosing.de wirkstoffbezogene Anga- ben zur individuellen Dosierung von Arzneimitteln bei Patienten mit ein- geschränkter Nierenfunktion von der Abteilung Klinische Pharmako- logie und Pharmakoepidemiologie des Universitätsklinikums Heidel- berg • Clincalc.com Creatinine Clearance Calculator and Estimate glomerular filtration rate (eGFR) Clincal tool with evidence-based resources for healthcare providers. Entwickelt von Sean P. Kane, PharmD, BCPS, klini- scher Pharmazeut an der Rosalind Franklin Universitiy, North Carolina USA • Nierenrechner.de herausgegeben vom PKD Familiäre Zystenniere e.V. • Mdcalc.com von MD Aware, LLC; New York (zuletzt abgerufen am 24.09.2021)

TABELLE 6: Empfehlungen Arzneimittel Dosis

Dosierungsangaben

Änderungen

Apixaban

2,5 mg

1-0-1

Dosisreduktion, Anpassung an die Nierenfunktion

Pantoprazol Atorvastatin

20 mg 20 mg 5 mg 75 µg 5 mg 5 mg

1-0-0 0-0-1 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-0 1-0-1

statt Simvastatin 40 mg

Amlodipin L-Thyroxin Bisoprolol

statt Lercanidipin

Ramipril

Metformin

500 mg

Pausieren und Blutzucker überwachen Dosisreduktion, Anpassung an die Nierenfunktion chronische Nierenerkrankung

Sitagliptin

25 mg

1-0-0

Dapagliflozin

10 mg

1-0-0 1-0-0

Cholecalciferol

1000 IE

Meropenem 1 g

Tag 1 Kurzinfusion alle 8 Stunden, ab Tag 2 angepasst an die Nieren- funktion alle 12 Stunden

Antibiotika-Therapie

8 / AKWL Fortbildung Aktuell – Das Journal

INA RICHL ING

ABBILDUNG 1: Pharmazeutisches Konsil (Screenshot)

TOP-ARZNEIMITTEL AUS DEM RENAL PHAMACIST PROJEKT, DIE ENTWEDER VON DER DOSIERUNG AN DIE NIERENFUNKTION ANGE- PASST WERDEN MUSSTEN ODER KONTRAINDIZIERT WAREN: • Apixaban, Rivaroxaban & Enoxapa- rin • Metformin & Sitagliptin • Lercanidipin, Simvastatin, Spirono- lacton & HCT • Ibuprofen und andere NSAR und se- lektive Coxibe •Ampicillin/Sulbactam, Piperacillin/ Tazobactam&Meropenem REFERENZEN & LITERATUR 1 Williams B, Mancia G, Spiering W, et al. 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension. Eur Heart J. 2018; 39(33):3021-3104. 2 13. Masoli JAH, Delgado J, Pilling L, Strain D, Melzer D. Blood pressure in frail older adults: associations with cardiovascular outcomes and all-cause mortality: Associations with cardio- vascular outcomes and all-cause mortality. Age and ageing. 2020; 49(5):807-813. 3 Volpe M, Battistoni A, Rubattu S, Tocci G. Hy- pertension in the elderly: which are the blood pressure threshold values?: Which are the blood pressure threshold values? European heart journal supplements: journal of the European Society of Cardiology. 2019; 21(Suppl B): B105- B106. 4 Unger T, Borghi C, Charchar F, et al. 2020 International Society of Hypertension Global Hypertension Practice Guidelines. Hypertensi- on (Dallas, Tex. :1979). 2020; 75(6):1334-1357. 5 WMF S2k-Leitlinie Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter. 2020. Available at: https://leitlinien.dgk. org/2018/s2k-leitlinie-diagnostik-therapie-und- verlaufskontrolle-des-diabetes-mellitus-im- alter/. Accessed 21.09.2021. 6 Mach F, Baigent C, Catapano AL et al. 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias: lipid modification to reduce cardiovascular risk: Lipid modification to reduce cardiovascular risk. Eur Heart J 2020;41(1):111- 188

7 17Mortensen MB, Nordestgaard BG. Elevated LDL cholesterol and increased risk of myocardial infarction and atherosclerotic cardiovascular disease in individuals aged 70– 100 years: a contemporary primary prevention cohort. Lan- cet 2020;396(10263):1644-1652 8. [18] Yourman LC, Cenzer IS, Boscardin WJ et al. Evaluation of Time to Benefit of Statins for the Primary Prevention of Cardiovascular Events in Adults Aged 50 to 75 Years: A Meta-analysis. JAMA Internal Medicine 2020, https://pubmed. ncbi.nlm.nih. gov/33196766/ 9. Cholesterol Treatment Trialists, Lancet 2019; 393: 407-415 10 Fachinformation Meronem® (Stand Mai 2021) 11 Abele-Horn, M. „Antimikrobielle Therapie – Ent- scheidungshilfen zur Behandlung und Prophyla- xe von Infektionskrankheiten“ 4. Auflage 2020 12 Easy DOAK verfügbar unter https://www. klinikum.uni-heidelberg.de/kliniken-institute/ kliniken/zentrum-fuer-innere-medizin-medizin- klinik/abt-klinische-pharmakologie-und-phar-

makoepidemiologie/willkommen/downloads (24.09.2021) 13 Can J Cardiol 2018;34:1010 14 J Am Geriatr Soc 2016;64:1996 15 KDIGO 2012 Clinical Practice Guideline for the Evaluation and Management of Chronic Kidney Disease. Kidney International Supplements 2013; 3: 5-14 16 Hanauer Schaab E, Lanchote VL, Balthazar Nar- dotto GH et al. Effect of Lercanidipine on the Pharmacokinetics-Pharmacodynamics of Car- vedilol Enantiomers in Patients With Chronic Kidney Disease. J Clin Pharmacol. 2020;60(1):75- 85, doi:10.1002/jcph.1485 17 15a Fachinformation Zocor® (Stand Februar 2021) 18 Fachinformation Januvia ® (Stand Mai 2020) 19 Fachinformation Metformin –ratiopharm® 1000 mg Filmtabletten (Stand April 2021) 20 Ashley, C., Dunleavy, A. 2019 Renal Drug Hand- book 5th Edition 21 Fachinfo Forxiga®, Stand August 2021

KURZZUSAMMENFASSUNG Die Dosisanpassung an die Nierenfunktion wird im Praxisalltag noch immer zu wenig beachtet. Natürlich sind klinische Parameter essenziell, um die Nierenfunktion zu berechnen. Sobald man aber die Werte zur Verfügung hat, können sich Pharmazeuten in das in- terdisziplinäre Teammit ihremWissen einbringen. Zu beachten ist, dass jede Schätzformel, die zur Dosisanpassung an die Nierenfunk- tion herangezogen wird, Limitationen besitzt und es einen Unterschied gibt zwischen der geschätzten Kreatinin-Clearance und der eGFR (CKD-EPI). Allerdings können für die meisten Arzneistoffe, die renal eliminiert werden, oft beide Berechnungen herangezogen werden. Fur bestimmte Wirkstoffe, wie nephrotoxische Arzneimittel oder Arzneimittel mit renaler Clearance und enger therapeuti- scher Breite, sollte weiterhin die in den Fachinformationen empfohlene Schätzformel fur die Dosisanpassung (bei Angaben zur Kreati- nin-Clearance wäre dies die Cockcroft-Gault-Formel und bei Angaben zur glomerulären Filtrationsrate die CKD-EPI-Formel) verwendet werden. Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen sollten bei der Beratung in der Apotheke erkannt werden und zielgerichtet im OTC, zu Phytopharmaka und im Nahrungsergänzungsmittel-Bereich beraten werden. Gerade auf die TOP-Arzneimittel, die an die Nierenfunktion angepasst werden müssen (s. Kasten) kann in der Apotheke verstärkt die Aufmerksamkeit liegen.

DEPRESCRIBING

Deprescribing Die Kunst des achtsamen Wegstreichens von Arzneimitteln

Im Jahr 2003 ging der australische Geriater Michael C. Woodward der Frage nach, wie die Gesundheit älte- rer Menschen durch gezielte Redukti- on der Arzneimittelverordnungen verbessert werden könnte und ver- wendete in diesem Zusammenhang erstmals den Begriff „Deprescribing“. Ins Deutsche übersetzt könnte man von „Verordnung aufheben“ oder „Rück-Verordnung“ sprechen (lat. praescribere: verordnen). Dabei han- delt es sich nicht um ein einfaches Absetzen von Arzneimitteln, sondern um einen systematisch und sorgfältig durchzuführenden Prozess. Die empfohlene durchdachte Vorgehens- weise hilft, bei der häufig großen Fülle an Verordnungen eines Patienten diejenigen Arzneimittel zu identifizieren, • die dem Patienten schaden oder scha- den könnten, • die aufgrund von Veränderungen des Gesundheitszustands, bei Komorbidi- täten oder Komedikation mittlerweile kontraindiziert sind, • deren Indikation unklar ist, • die Teil einer Verschreibungskaska- de sind, • die eine zweifelhafte Wirksamkeit haben, • die bei veränderten therapeutischen Zielen entbehrlich geworden sind oder niedriger dosiert eingesetzt werden könnten, oder • deren Nutzen erst nach der (begrenz- ten) Lebenserwartung des Patienten eintritt. Zusammengefasst besteht der Leitgedan- ke des Deprescribings darin, das Wohl des Patienten zu fördern, indem man ihn von schädlichen oder unnötigen Therapien befreit.

Dr. Verena Stahl (Herdecke) ist Apothekerin und wurde an der University of Florida als Semi-Resident im landes- weiten Drug Information & Pharmacy Resource Center ausgebildet. Außerdem: berufsbegleitende Dissertation zu einem Thema der AMTS, freiberufliche Tätigkeit u. a. als Autorin für die DAZ und als Referentin für diverse Apothekerkammern.

Foto: Alois Müller

Dr. Verena Stahl

beziehungsweise Grundsätze, die sich bis heute nicht geändert haben: • Überprüfung aller derzeit eingenom- menen Medikamente, • Ermittlung der Medikamente, die ab- gesetzt, ersetzt oder reduziert wer- den sollen, • Planung einer Absetzstrategie in Zu- sammenarbeit mit dem Patienten und • regelmäßige Überprüfung und Unter- stützung des Patienten. 1 Weitere Forschungsergebnisse trugen in den Folgejahren dazu bei, den Nutzen dieser Maßnahme zu belegen, aber auch DEFINITION: Deprescribing wird als systematischer Prozess der Identifikation und des Ab- setzens von Arzneimitteln definiert, bei denen aufgetretene oder potenti- elle Risiken und Schäden den zu beob- achtenden oder zu erwartenden Nut- zen übersteigen, betrachtet im Kon- text der patientenindividuellen Behandlungsziele, des aktuellen Ge- sundheitszustands, der Lebenserwar- tung, des individuellen Nutzens und der Vorlieben des Patienten. 2 Kurzform: Unter Deprescribing ver- steht man das Absetzen einer unange- messenen Medikation, überwacht und betreut durch medizinisches Fachpersonal mit dem Ziel, Polyphar- mazie zu bewältigen und das Patien- tenwohl zu verbessern. 3

Hindernisse für die Übernahme des De- prescribings in die klinische Routinever- sorgung zu identifizieren (s. u.). 2 Denn zwischen Theorie und Praxis liegen ja bis- weilen bekanntlich Welten.

Wozu braucht es Deprescribing?

Das eherne medizinethische Prinzip, pri- mum non nocere, erstens nicht schaden, ist elementarer und oft zitierter Bestand- teil des Hippokratischen Eides. Immer wieder kommt es aber zu Schädigungen in Verbindung mit der Arzneimittelthe- rapie und besonders Polymedikation, Hochrisikoarzneimittel und potentiell altersinadäquate Medikation (PIM) er- scheinen in diesem Lichte problematisch. Die negativen Auswirkungen inadäqua- ter Verordnungen oder Kombinationen sind hinlänglich bekannt und bestehen WANN SOLLTE ÜBER EIN DEPRESCRIBING NACHGEDACHT WERDEN? • Bei neu auftretenden Symptomen, die für eine unerwünschte Arznei- mittelwirkung sprechen. • Bei fortschreitenden, unheilbaren oder terminalen Erkrankungen, De- menz, extremer Gebrechlichkeit oder großer Pflegeabhängigkeit. • Einnahme von Hochrisiko-Arznei- mitteln oder -Kombinationen. • Einnahme präventiver Arzneimittel, deren Absetzen nicht mit einem er- höhten Krankheitsrisiko verbunden ist.

Grundsätze des Deprescribings

Um den Medikationsplan eines Patien- ten zu „entschlacken“, beschrieb der ein- gangs erwähnte Pionier des Deprescri- bings, Professor Woodward, in seiner Veröffentlichung folgende Prozessschritte

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verbessert sich häufig das Blutdruck- und Blutzuckerprofil beträchtlich und macht mitunter den Einsatz von Antihyperten- siva und oralen Antidiabetika überflüssig. Wird den Veränderungen keine Beachtung geschenkt, erleiden Patienten, gerade Äl- tere, schnell Schaden durch hypotensive oder hypoglykämische Zustände. Auch können sich Behandlungsziele, der Ge- sundheitszustand oder Präferenzen des Patienten mit der Zeit geändert haben - insbesondere am Lebensende - weshalb Anpassungen in der Wahl des Arzneimit- tels oder seiner Dosierung erforderlich werden. Ein Problem stellen ferner unklar formulierte Behandlungsziele dar, bezie- hungsweise solche, deren Erreichen nicht konsequent und fortlaufend überprüft wird. Bei älteren Patienten werden des Weiteren einige gängige Arzneimittel re- gelmäßig verordnet, obwohl sie als poten- tiell altersinadäquat eingestuft werden. Zu unkontrollierter und unangemessener Multimedikation tragen nicht selten auch Präparate der Selbstmedikation bei, von denen Ärzte in vielen Fällen keine Kennt- nis haben. Unter Polypharmazie nehmen Lebens- qualität und Adhärenz des Patienten er- wiesenermaßen ab, beide Aspekte sind dabei miteinander verknüpft. Schließlich bergen komplexe und überfrachtete Me- dikationsregime die Gefahr, dass die Ein- haltung der Therapie nicht gelingt und zur Belastung wird. Im Zuge dessen kann es dazu kommen, dass Patienten notwendi- ge Therapeutika unregelmäßig oder nicht mehr einnehmen, weil sie entsprechend ihrer Überzeugungen oder Vorlieben Prio- ritäten setzen und bestimmte Arzneimit- tel, deren Nutzen sie beispielsweise nicht verstanden haben oder direkt verspüren, zu Gunsten anderer weglassen. 2 Zudem kann Polypharmazie indirekt auch zu Un- terversorgung (Nicht-Behandlung von Er- krankungen) beitragen, wenn zusätzliche Verordnungen bei jemandem, der schon viele Arzneimittel einnimmt, gescheut werden (z. B. aus Angst vor Interaktionen). Es ist daher dringend geboten, Patientin- nen und Patienten mit so wenig wie mög- lichen aber so viel wie nötigen Arzneimit- teln zu versorgen. Herausforderung für die Adhärenz

Was ist möglich?

zusammengefasst im Auftreten von uner- wünschten Arzneimittelereignissen und deren Folgen für den Patienten, erhöhten Hospitalisierungs- und Mortalitätsraten sowie gesteigerten Gesundheitsausga- ben. Der effektivste Lösungsansatz wäre, unangemessene Verordnungen von vorn- herein zu vermeiden. Hierzu muss bei der Erstverordnung von Arzneimitteln eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung er- folgen, aber auch die Folgeverordnungen müssen kritisch hinterfragt werden, weil sich Nutzen und Risiken imVerlauf ändern können. Erfolgt dies nicht regelhaft, ist zuweilen ein grundlegendes, proaktives „Aufräumen“, als das man das Deprescri- bing auch verstehen kann, geboten, um Patienten vor Schäden zu bewahren. Häufig bedingen aber erst eingetretene Ereignisse, wie beispielsweise ein Sturz, dass Nutzen und Risiken der Arzneimittel- therapie sorgfältig analysiert werden, hier spricht man von reaktivem Deprescribing. Polypharmazie (meist definiert als die re- gelmäßige Einnahme von fünf und mehr Arzneimitteln und auch als Multime- dikation bezeichnet) ist - insbesondere bei älteren Patienten - ein oft anzutref- fendes Phänomen, von dem in Europa schätzungsweise 30 bis 40 % der über 65-jährigen betroffen sind. 4 Dabei ist eine bewusste, wohlbegründete und gut ab- gestimmte Multimedikation per se nicht problematisch. Schließlich sind viele Pati- enten, gerade im höheren Alter, von gleich mehreren chronischen Erkrankungen betroffen, die allesamt leitliniengerecht behandelt werden wollen. Wird ein Pati- ent dabei von mehreren Ärzten betreut, bedarf es einer guten Kommunikation der Behandler untereinander, um ein schlüssi- ges Gesamtkonzept für den Patienten zu entwickeln. Werden mit der Multimedika- tion einhergehende (potentielle) Risiken nicht hinreichend kontrolliert, spricht man von unkontrollierter Multimedikation. Sie kann darüber hinaus auch unangemessen sein, wenn sie zum Beispiel daraus resul- tiert, dass nicht mehr indizierte, unwirksa- me oder schlecht verträgliche Therapien unreflektiert fortgeführt werden. Haben Patienten beispielsweise ihren Lebensstil geändert (Ernährungsumstellung, sport- liche Betätigung, Gewichtsabnahme), Unkontrollierte und unangemessene Polypharmazie

Jede medizinische Maßnahme sollte das Kriterium evidenzbasiert erfüllen, doch welche Evidenz steckt hinter dem De- prescribing? In mehreren Studien ließ sich neben der schlichten Reduktion der Arzneimittelanzahl ein daraus ableitba- rer, direkter Nutzen für Patienten nach- weisen. So konnte ein systematisches Review von 31 Studien bei über 65-jähri- gen Patienten zeigen, dass bei geeigneter Patientenauswahl, -schulung und eng- maschiger Überwachung das vorsichtige Absetzen von Antihypertensiva, Diuretika, psychotropen Arzneimitteln und Benzo- diazepinen in 20 bis 100 % der Fälle ohne nachteilige Effekte möglich war. 5 Durch das Absetzen von psychotropen Arznei- mitteln und Benzodiazepinen konnten die Sturzrate reduziert und die kogniti- ven und psychomotorischen Funktionen verbessert werden. Ein weiteres Review randomisierter Studien belegt, dass die Sterblichkeitsrate durch patientenin- dividuelle Deprescribing-Maßnahmen deutlich gesenkt werden konnte. 6 Andere Studien zeigten besonders bei palliativ- medizinischer Fragestellung sehr gute Ergebnisse. In einer Untersuchung des israelischen Wissenschaftlers und Vorrei- ters im Kampf gegen die Polypharmazie, Doron Garfinkel, konnten beispielsweise durch gründliche ärztliche Durchsicht im Durchschnitt 4,4 überflüssige oder schäd- liche Arzneimittel pro Patient identifiziert werden. Nach eingehender Beratung mit dem Patienten, seinen Angehörigen und dem betreuenden Hausarzt wurden 82 % der Absetzempfehlungen erfolgreich um- gesetzt. Das entsprach durchschnittlich 4,2 abgesetzten Verordnungen pro Pati- ent. Nur 2,3 % der Arzneimittel wurden im späteren Verlauf aufgrund eines erneuten Auftretens von Symptomen wieder ange- setzt, generell berichteten neun von zehn Patienten (88 %) über Verbesserungen des Gesundheitszustands nach dem Abset- zen. 7 In der internationalen Deprescribing- Forschung sind auch viele Apothekerinnen und Apotheker engagiert und konnten Deprescribing-Interventionen in Senio- ren- und Pflegeheimen, Krankenhäusern und im niedergelassenen Bereich erfolg- reich vorantreiben. Beispielsweise setzten kanadische Ärzte 86 % der pharmazeuti- schen Deprescribing-Vorschläge in einem Pflegeheim um. 8 Anschließend nahmen

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DEPRESCRIBING

TABELLE 1: Deprescribing-Schema in fünf Schritten (adaptiert nach 2 ).

Schritt- Nummer

Schritt

Details / zu beachten

1

Erfassung aller Arzneimittel, die der Patient derzeit einnimmt Abschätzung des individuellen Risikos arzneimittelbedingter Schäden zur Festlegung des erforderlichen Umfangs der Deprescribing-Intervention Beurteilung, bei welchen Arzneimitteln ein Absetzen geeignet wäre Priorisierung der abzusetzen- den Arzneimittel vornehmen

Erfragung der Behandlungsgründe und der Adhärenz

2

Risikoabschätzung u. a. abhängig von der Gesamtzahl der Arzneimittel, dem Einsatz von Hochrisiko-Arzneimit- teln und Patientenfaktoren wie einem Alter über 80 Jahren, kognitiven Beeinträchtigungen, Multimorbidität und Arzneimittelmissbrauch

3

z. B. altersinadäquate Arzneimittel, kontraindizierte Arzneimittel, Arzneimittel zur Behandlung zweifelhafter Diagnosen, Arzneimittel mit geringem Nutzen am Lebensende, Verordnungskaskaden

4

Zuerst sollten Arzneimittel mit dem größten Schädigungspotential und geringstem Nutzen abgesetzt werden, gefolgt von Arzneimitteln, die ohne Absetzphänomene oder Krankheitsrückfall beendet werden können, dann sollten Arzneimittel abgesetzt werden, die der Patient am ehesten absetzen möchte Dem Patienten sollte der Absetzplan erläutert und sein Einverständnis eingeholt werden. Es sollten nicht mehrere Arzneimittel gleichzeitig abgesetzt werden, ummögliche Absetzreaktionen und im Gegenzug auch Verbesserungen gezielt einem Arzneimittel zuordnen zu können. Ggfs. ist ein ausschleichendes Absetzen erforderlich. Kontrolle von Absetzphänomenen und Handlungsempfehlungen für den Patienten und seine Betreuer für den Fall des Auftretens von Absetzphänomenen ausarbeiten. Dokumentation der Rationale und der Resultate des Deprescribings.

5

Implementierung und Überwachung des Absetzre- gimes

um qualitativ hochwertige und aussage- kräftige Ergebnisse zu erzielen [9].

jährlichen kritischen Überprüfung der Therapie, ihrer Zweckmäßigkeit und der Identifikation ungeeigneter oder schädli- cher Medikamente (Über- und Fehlversor- gung), werden konkrete Handlungsemp- fehlungen ausgesprochen, nach welchem Schema ungeeignete Arzneimittel ab- gesetzt werden sollen. Wissenschaftlich bedeutende Ergebnisse werden von der derzeit laufenden COFRAIL-Studie erwar- tet (www.cofrail.com). Unter Federfüh- rung des Instituts für Allgemeinmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf wird bei eigenständig lebenden, gebrechlichen Senioren untersucht, wie sich sogenannte Familienkonferenzen mit dem behandeln- den Hausarzt und eine gemeinsame Prio- risierung von Arzneimittelverordnungen inklusive Deprescribing auf die Patienten- sicherheit (konkret Sturzereignisse nach sechs und zwölf Monaten) auswirken. Ein Forschungsvorhaben der TU München zum Thema Deprescribing konzentriert sich auf die Reduktion von Antipsychotika bei Heimbewohnern mit fortgeschrittener Demenz. ImRahmen der sogenannten READY-Studie werden nun Handlungsempfehlungen für Deutsch- land erarbeitet (www.decide.med.tum. de/reduktion).

die pharmazeutisch betreuten Patienten im Durchschnitt 2,88 Arzneimittel weni- ger ein als Patienten der Kontrollgruppe.

Deprescribing-Schema

Heterogene Studien

Es wird empfohlen, beim Deprescribing in mehreren Schritten und in enger Ab- sprache mit dem Patienten vorzugehen (s. Tab. 1). 2

Dass bei erfolgreichen Deprescribing- Interventionen nicht immer von positi- ven Effekten über die Reduktion der Arz- neimittelanzahl hinaus berichtet wurde, zum Beispiel weniger Sturzereignisse oder Krankenhausaufnahmen oder ein verbes- sertes Abschneiden bei Kognitionstests, liegt zum Teil an der methodischen Qua- lität der Studien. Manche Untersuchun- gen sind nicht darauf ausgerichtet, kli- nisch relevante oder patientenbezogenen Auswirkungen als Studienendpunkte zu erfassen und analysieren beispielsweise „nur“, wie viele Arzneimittel eines Patien- ten durch Deprescribing abgesetzt oder in ihrer Dosis reduziert werden konnten, bei wie vielen Patienten diese Veränderungen auch langfristig Bestand hatten und ob es zu Absetzphänomenen oder Rebounds gekommen ist. Verzerrend könnten aber auch bei entsprechend konzipierten Un- tersuchungen die recht kurzen Nachbeob- achtungszeiträume von meist einem hal- ben Jahr wirken. Hier muss die Forschung sicherlich noch gestärkt und entspre- chend gefördert werden und es gilt, ver- schiedene Aspekte beim Studiendesign und der Durchführung zu berücksichtigen,

Deprescribing in Deutschland

Das umfassende Konzept des Deprescri- bings hat in der Praxis noch nicht richtig Fuß gefasst, wobei Einzelaspekte seit lan- gem durchaus Berücksichtigung finden (sollten). Erwähnenswert ist die Initiative der DeutschenGesellschaft für InnereMe- dizin (DGIM) „Klug entscheiden“, die den kritischen Einsatz von Arzneimitteln an- mahnt, aber eher zum Zeitpunkt der Ver- ordnung ansetzt [10]. Dennoch finden sich hier Beispiele, wie das inadäquate Festhal- ten an Protonenpumpenhemmern (PPI) über das Therapieende hinaus. Konkreter widmet sich die aktuell in neuer Auflage erschienene Hausärztliche Leitlinie Mul- timedikation dem Thema Deprescribing [11]. Die Adressaten der Leitlinie, Hausärz- tinnen und Hausärzte, werden ermutigt, Deprescribing als Teil des Medikations- prozesses zu betrachten und gerade bei Multimedikation nicht den Überblick zu verlieren. Neben einer Empfehlung zur

Hindernisse in der klinischen Umsetzung

Gründe, die aus ärztlicher Sicht ein

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ABBILDUNG 1: Befragung von 24 Ärzten für Allgemeinmedizin in Neuseeland zum The- ma Deprescribing (adaptiert nach 12 ).

Deprescribing erschweren, sind vielfältig, siehe auch Abbildung 1: 2,12 • Leitlinientreue und damit bedingte Haftungsfragen • Unsicherheiten über den Nutzen oder die Risiken des Fortführens wie des Absetzens einer Therapie • Erwartungshaltung des Patienten (und der Angehörigen) in puncto Be- handlung von Krankheiten durch Medikamente • Vertrauensverhältnis Arzt-Patient • Zeitmangel für ein gründliches Beratungsgespräch, • Unbezahlte Tätigkeit • Informationsdefizite (über den Patien- ten, zurückliegende Therapiegründe, Deprescribing-Vorgehen) • mangelnde Unterstützung durch „Experten“ • „Einmischen“ bei anderen Verordnern, wenn Patienten von mehreren Ärzten betreut werden Beim gewissenhaften Absetzen von Arzneimitteln handelt es sich um einen sehr patientenorientierten Vorgang, da es eine gemeinsame Entscheidungsfin- dung, Einverständnis des Patienten und engmaschige Überwachung der poten- tiellen Absetz-Auswirkungen erfordert. Nicht jeder Patient steht Vorschlägen zum Absetzen seiner Medikation positiv gegenüber, manche möchten an ihrer - meist langjährig durchgeführten und als essentiell angesehenen - Therapie fest- halten und fühlen sich abgewertet, an- dere sind bei derartigen Entscheidungen überfragt. Wichtig ist, dass Patienten der- artige Interventionen nicht als „Wegneh- men“ oder Autonomie-Verlust verstehen (Analogien bestehen zum Abgeben des Führerscheins), sondern positiv belegt als Optimierungsversuch, Ballastabwurf und Zunahme an Sicherheit wahrnehmen. Ein- drückliche Patientenmeinungen wurden jüngst in einer Befragung von 17 kardio- vaskulär erkrankten Senioren in den Nie- derlanden gesammelt, die mindestens 70 Jahre alt waren und mit fünf oder mehr Arzneimitteln therapiert wurden. 13 Die Autoren der Studie identifizierten dabei auf der Grundlage der Einstellung der Teil- nehmer zu ihrer Medikation und ihrer Be- reitschaft, Arzneimittel abzusetzen, vier Die Rolle des Patienten

„Es ist eine schwierige Diskussion, etwas abzusetzen oder zu verändern, was durch

„Falls der Patient irgendwann einmal einen Herzinfarkt erleidet und man vorher das Statin abgesetzt hat, hat man schlechte Karten.“

„Patienten erwarten, dass sie bei allem Möglichen eine Pille bekommen.“

einen Facharzt oder im Krankenhaus angesetzt wurde.“

„Es könnte so verstanden werden, als hätte man den Patienten - z.B. aufgrund seines Alters - bereits abgeschrieben.“

„Verordnen wurde uns beigebracht, Deprescribing war aber nie ein Thema.“

„Wenn man sich an die Leitlinien hält, kommen einfach immer mehr Medikamente hinzu. Und wer will sich nicht an die LL halten?“

„Für so etwas ist im Praxisalltag und gerade bei komplexen Patienten keine Zeit.“

Wallis KA et al. Ann Fam Med 2017;15:341-346.

TABELLE 2: Patiententypologie auf der Grundlage der Einstellung zur Medikation und der Bereitschaft, die Medikation abzusetzen (adaptiert nach 13 ). Patiententypologie Motive und Überzeugungen Patiententyp 1 Hat schon Ist

Führt sein Wohlbefin- den auf sein(e) AM zu- rück und ist daher un- willig, es/sie abzusetzen. Ist zufrieden mit seinem Gesundheitszustand und auch positiv gegen- über AM gestimmt. Ist eher negativ gegen- über AM eingestellt.

einmal schlechte Erfahrungen beim Absetzen von AM gemacht. Möchte weniger AM/ nicht nochmehr AM ein- nehmen. Sieht bestimmte AM als essentiell an, möchte aber andere gerne ab- setzen.

unsicher/fürchtet sich vor den Auswir- kungen des Absetzens.

positive Einstellung zu Arzneimitteln (AM) und nicht gewillt, etwas zu verändern Patiententyp 2 positive Einstellung zu AM und willens, AM ab- zusetzen Patiententyp 3 negative/ambivalente Einstellung zu AM und willens, etwas abzuset- zen Patiententyp 4 indifferente Einstellung zu AM und Absetzen von AM

Ist willens, AM abzuset- zen, wenn dies vom Arzt vorgeschlagen wird. Fühlt sich von Ärzten nicht ernst genommen hinsichtlich AM-Proble- men und Absetzwün- schen, beklagt Zeit- mangel. Tendiert dazu, Ent- scheidungen hinsicht- lich der AM-Therapie Angehörigen oder Ärz- ten zu überlassen.

Hat keine eindeutige Meinung zu AM.

Ist nicht wirklich daran interessiert, was mit der AM-Therapie passiert.

indifferente Einstellung zu Arzneimitteln und waren auch nicht an Absetz-Interven- tionen interessiert. Sie tendierten dazu, diesbezügliche Entscheidungen ihren Ärz- ten oder Bezugspersonen zu überlassen. Die Befragung verdeutlicht sehr gut, wie wichtig es ist, Motive und Überzeugungen des Patienten hinsichtlich seiner Arznei- mitteltherapie zu ergründen, bevor man ein Deprescribing durchführt. Denn nur dann kann die richtige Ansprache-Strate- gie gewählt und entschieden werden, in welchem Umfang Patienten in den Pro- zess eingebunden werden wollen.

Patiententypen (s. Tab. 2). Einige waren nicht gewillt, etwas an ihrer Medikation zu verändern (Patiententyp 1), während andere gerne weniger Arzneimittel ein- nehmen würden, wenn dies vom Arzt be- fürwortet werden würde (Patiententyp 2). Beide Patiententypen wiesen eine positive Einstellung zur Arzneimitteltherapie auf. Anders verhielt es sich bei einer dritten Patientengruppe, die der eigenen Arznei- mitteltherapie eher negativ gegenüber- stand und schon in der Vergangenheit den Wunsch hegte, etwas zu verändern, sich aber nicht von ihrem Arzt verstanden oder ernstgenommen fühlte. Angehörige der vierten Patientengruppe pflegten eine

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